Schule im neuen Russland:

„Wir werden die ganze Welt verändern!“

Russland ist groß. Und genauso groß scheinen die Möglichkeiten, alternative Bildungswege zu beschreiten. Einer der spannendsten Aspekte der Russlandreise waren die bemerkenswerten Einblicke in die teilweise außergewöhnliche Schulbildung, welche mich ins Staunen versetzten. Werfen wir doch zuerst einen Blick in die Erziehungsstuben der Elternhäuser:

Unsere Gasteltern schenken ihren Kindern, wie gewöhnlich, sehr viel Liebe und Aufmerksamkeit. Außergewöhnlicher war vielleicht das spürbare Vertrauen und die reduzierten Ängste. Das mag auch der Grund sein, warum in den besuchten Siedlungen die Kinder uns Gäste sehr offen und voller Herzenswärme empfangen haben. Die größeren Kinder zeigten stolz die Ergebnisse ihrer Talente: kunstvolle Uhren, wunderschöne Zeichnungen, Geige- oder Klavierspiel, Bogenschießen, Fußball oder auch die ersten Worte in einer Fremdsprache. Die Menschen treffen sich in Gemeinschaftshäusern und geben auch dort ihr Wissen weiter.

In Russland ist „Homeschooling“ erlaubt, ein Gesetz welches den Eltern eine erweiterte Entscheidungsfreiheit zur Hand gibt, wie die Bildungsinhalte vermittelt werden. Dadurch ist es sicherlich leichter, unabhängige Schulen in den Dörfern aufzubauen und dort auch Lehrer einzusetzen, die keine Zertifizierung für ein bestimmtes Fach haben, sich dennoch für ein Thema berufen fühlen. Die staatliche Absegnung erfolgt dann zentral in Moskau, durch Bestehen der Prüfungen. In Deutschland ist dies momentan nicht möglich.

In der Siedlung Wedrussija nahmen wir, auf Wunsch der Lehrerin, aktiv am Englischunterricht der Siedlungsschule, sowie der Schule des nahegelegenen Dorfes teil.

Dies gab uns einen Einblick und hat viel Freude bereitet. Der Unterricht ist offen, oft kamen Kinder herein und gingenwieder hinaus. Ich saß auf einem viel zu kleinen Stuhl und war wieder in die Vergangenheit zurückversetzt und empfand dies Hin und Her als störend. Auch hier gibt es feste Schul- und Unterrichtszeiten, damit Eltern einen Ort für ihre Kinder haben, wenn sie in der Stadt bei der Arbeit sind. Durch unsere Teilnahme und das Interesse von Erwachsenen ist sicherlich auch ein Bewusstsein erwachsen, dassdie Schüler und die Schule(n) etwas Besonderes nach außen darstellen.

Die erste lange Englischstunde wirkte anfangs wie der übliche Frontalunterricht (erkennbar an den kurzen zeitlichen Intervallen mit dem Blick zur Uhr), doch dann zeigten sich die ersten Unterschiede: Den Schülern wurde gleich im Vorhinein eine bestimmte bildliche Lerntechnik am Beispiel von lateinischen und koreanischen Vokabeln vermittelt. Diese Technik funktioniert wirklich hervorragend. Zumindest die lateinischen Vokabeln blieben mir spätestens bei der 2. Wiederholung im Kopf hängen. Die koreanischen Wörter erzeugten Widerstand – Auto und Geld konnte ich mir noch merken, doch bei den anderen Wörtern ging die Lernbereitschaft gegen Null (wofür, fragte mein Unterbewusstsein). Außerdemwurden wir alle gedanklich darauf eingestellt, dass es mit intensiven und bildlichen Lerntechniken nicht länger als drei Monate dauern soll, bis man Englisch oder eine andere Fremdsprache fließend sprechen kann.

Bitte mach dir den Unterschied bewusst, lieber Leser: In unseren Schulen gibt es beispielsweise 12 Jahre Englischunterricht, doch würde man den Kindern die Grenzen und Abhängigkeiten im eigenen Kopf abbauen und ihnen erklären, dass es der 12 Jahre Schule eigentlich nicht bedarf, sondern die Kinder auf eigenen Wunsch eine Sprache viel zügiger lernen, wenn sie diese als erstrebenswert erachten. Was wären die Folgen? Fakt ist, in unserem Schulsystem kommt das Wissen teilweise zu früh an die Kinder heran und nicht immer schaffen es die Lehrer, bedingt durch den straffen Bildungsplan, genug Zeit aufzuwenden, um entsprechendes Interesse für die Themen zu wecken und die Bedeutung des Erlernten klar zu formulieren. Dies ließ folglich den Begriff des Bulimie-Lernens entstehen ( = lernen und nach der Prüfung wieder vergessen). Auch hat mir im Englischunterricht sehr gut gefallen, dass wir zwischendurch alle aufstanden und ein Lied mit viel Mimik und Gestik gesungen haben. Im Morgenkreis mit den Kleinen haben wir letztlich mehr Englisch gesprochen als mit den älteren Kindern.

Und nun ein Blick in das nördlichere Kovcheg, eine sehr weit fortgeschrittene Siedlung (erkennbar an den großen Bäumen der lebenden Hecken): Das komplett aus Holz gebaute Gemeinschaftshaus dientauch als Schule und hat eine angenehme und ansprechende Ausstattung – auch mit technischem Zubehör. Die Schüler haben nebenan am Theaterbau und Unterstandbau mitgewirkt und selbst die kunstvollen Bilder gestaltet, die seitlich an den Wänden hängen. Nebenbei bemerkt gibt es eine weitverbreitete Lektüre bei allen Schülern, in den von uns besuchten Siedlungen und das ist die „Anastasía“-Buchreihe von Wladimir Megré, welche gedankliche Grenzen sprengen und die Kraft der Gedanken betonen soll. Auch propagieren die Bücher bestimmte Schul- und Lebensformen. In den Büchern wird eine bereits existierende Schule beschrieben: Die Schetinin Schule, benannt nach ihrem Direktor in dem Dorf Tekos. Es handelt sich um eine zu 100% staatlich geförderte Schule, in der eine zukunftsweisende Elite geformt wird, welche nach eigenen Angaben die Welt verändern wird (wenn mandiese nach ihren Zukunftsplänen fragt). Dieses Internat haben wir besucht. Besucher aus der ganzen Welt sind willkommen nach Terminvereinbarung.

Uns führte eine 21-jährige Schülerin, welche vier Sprachen spricht, auch Englisch, durch das kleine gepflegte Gelände. Insgesamt fällt auf, dass fast das ganze Internat von den Schülern organisiert ist. Die Telefonate werden von Schülern entgegen genommen, die Führungen werden von ihnen gegeben, die Wachhäuschen, sind von trainierten jungen Schülern besetzt, die Wandmaler, die „Bauarbeiter“, ja selbst die Lehrer sind die Schüler.

Als wir in die Vorhalle eintraten, ertönten klassische Klänge in den Hallen und an den Wänden hingen düstere Malereien. Irgendwie erinnerte mich das alles an das Zauberinternat der Harry Potter-Romane. Klassische Musik, so erklärte unsere Begleiterin, sei die einzige Musik, die förderlich ist und im Internat zur Lernphase gehört wird. Nebenbei versuchte ich ein Foto von ihr zu machen, doch sie drehte sich zur Seite.

Ab 15 Uhr haben die Schüler quasi Freizeit und können ihre Aktivitäten selbst wählen. Manche lernen den Schulstoff des Vormittags, andere gehen ihren Neigungen nach und lernen zum Beispiel eine Fremdsprache. So kam es auch, dass wir eine der wenigen erwachsenen Personen beim Unterrichten erlebten. Die Mutter eines Schülers lehrte eine kleine Gruppe die kasachische Sprache.

Die Führung dauerte nur eine knappe Stunde. Überall sind Wandmalereien, jeder Raum lädt auf eine andere stimmungsvolle Art zum Lernen ein, da alle bewusst unterschiedlich gestaltet sind. Nur wo genau der militärische Duktus herkommt, mag den Besucher verwundern: In jedem Raum, den wir betraten, wurde reaktionsschnell aufgestanden und gegrüßt, bis sie sich – Einer nach dem Anderen – wieder hinsetzten und konzentriert ihrer Tätigkeit weiter folgten. Es scheint eine gute Disziplin zu herrschen, die für diese Schulform als notwendig erachtet wird. Unsere Begleiterin sprach in den höchsten Tönen über den Rektor, ohne den dies alles nicht möglich wäre. Wir haben den Direktor leider nicht gesehen. Man sagt, dass er jeden Besucher genau beobachten würde und bisher erst auf einen einzigen Besucher (und auch noch aus Hamburg) von sich aus zugegangen ist und eine Kooperation zurGründung einer Partnerschule in Deutschland vorgeschlagen hat.

Wer jetzt noch fragt, wie die Schüler Zeit haben, um Hausmeistertätigkeiten oder Führungen vorzunehmen, dem muss klar sein, dass sie innerhalb von 1-2 Jahren (hier gibt es unterschiedliche Aussagen) ihr Abitur machen und dann Zeit für andere wichtige Dinge haben: Kampfsport, weitere Sprachen, Organisation, Bauarbeiten, Universitätsstudium. Leider verwehrte sich die Schülerinuns zu erklären, wie man es schafft, in nur drei Tagen pro Fachgebiet den Stoff der 11. Klasse ohne Wiederholung in den Kopf zu bekommen. Hier jedoch wird sehr wahrscheinlich wieder mit Schaubildern, ähnlich dem LAIS System, gearbeitet: Das Gehirn reagiert auf Bilder einfach viel dankbarer als auf stumpfes Auswendiglernen. Und es gibt sich, aus meiner eigenen Erfahrung heraus, zumindest auf stupides Wiederholen sehr beleidigt. Auch im Speed Reading (schnelles Lesen) ist bekannt, dass im Unterbewusstsein schon bei der ersten Erfassung die Inhalte „gespeichert“ werden. Ein Tag auf dem Internat hat anscheinend viel mehr Stunden, zumindest weiß ich, dass die Schüler sichgegenseitig in der Disziplin übertrumpfen bzw. Schritt halten wollen und stehen schon mal täglich um 4 Uhr morgens auf, wie auch Richard Kandlin in seinen auf Youtube verfügbaren Vorträgen schildert. Diese Vorträge werden durchaus seitens der Schetinin Schüler kritisch beäugt, da man das Konzept nach deren Ansicht nicht in einer Präsentation erläutern kann. Auf mein Argument hin, dass Richard eine hervorragende Arbeit macht, da er wenigstens ein ungefähres Bild von der Schule wiedergibt, zeigte sich unsere Begleiterin erstaunt. Weiterhin habe ich sie gefragt, welches ihr konkretes Lieblingsfach wäre, daraufhin meinte sie, das gäbe es nicht. Nun hatte ich Lust zu stänkern und fragte erneut: „Mathe oder Englisch?“ Nach ihren Antworten zu schließen, scheint dieBewertung der Dinge dem Lernen nicht sehr zuträglich zu sein. Sie sind offen für jede Information und ohne die Bewertung lässt sich nach diesem Konzept auch vieles einfacher einprägen, da alle Sinne „ja“ sagen und die Kopfschranke nicht genährt wird.

Die Schüler trugen teilweise Uniformen und teilweise schicke, elegante Kleidung, alles rundum sah sehr gepflegt, ordentlich und für meinen Geschmack ansprechend aus. Gern wäre ich auf diese Schule gegangen. Nicht jedes Kind fühlt sich bereit, weit weg von den Eltern und schon kurz nach der Grundschule, auf ein solches Internat zu gehen. Zumindest bekommen die jungen Schüler ab 10 Jahren einen älteren „Freund“ an die Seite gestellt, welcher sie beschützt und sie in die wichtigsten Erfahrungen einweiht. Auf meine letzte ironische Frage an unsere Führerin, ob dieses Konzept den „Harry Potter“ Romanen entnommen sei, erntete ich zur Verabschiedung ein Augenverdrehen.

Markus

 

17. November 2016 von Thea Baum
Kategorien: Allgemein, Kinder, Kinder und Lernen, Menschen, Rund um den Familienlandsitz | 4 Kommentare

Kommentare (4)

  1. Danke für den ungeschminkt ehrlichen und erfrischenden Bericht. Ich habe die Schule von P.M.Schetinin schon einige Jahre auf dem Radar und finde, der Direktor hat seit der Lancierung ganz offensichtlich sehr vieles richtig gemacht. Der Ansatz, dass die Kinder sich gegenseitig die besten Lehrer/innen sein können, wurde an unseren staatlichen Schulen meist ignoriert. Vermutlich wurde er einfach nicht verstanden – oder lag es womöglich daran, dass sich die Lehrpersonen vor allzu kompetenter Konkurrenz fürchteten? 😉

  2. Liebe Franziska, schreibe doch mal Thea an, die organisiert regelmäßig solche Fahrten. dorotheamariabaumert@gmail.com

  3. In Deutschland gibt es doch inzwischen ähnliche Schulen – meine Kinder gehen auf eine. Meist heißen sie Freie Schule oder Freie Aktive Schule. Davon werden immer mehr gegründet. Das Konzept setzt sich meist aus Wild oder/und Montessori und anderen alternativen pädagogischen WEgen zusammen. Sehr spannend!

  4. … entschuldigung, ich bezog mich auf die erste genannte Schule . 🙂

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