Vom Wesen der Zeit – Teil 2

Chronos

Unsere Vorfahren wussten, dass die Zeit nicht nur linear zu betrachten ist, sondern auch nichtlinear. Es gibt sogar zwei griechische Götter, die für die zwei Seiten der Zeit stehen: Chronos und Kairos.

Chronos steht für die gemessene Zeit schlechthin. Deshalb sagte man früher zu der Uhr auch Chronometer. Mit Chronos kennen wir uns aus – er stellt das dar, was die meisten Menschen unter der Zeit verstehen. Spannend ist dabei, dass in der griechischen Mythologie Chronos seine Kinder verschlingt!

Chronos gilt als das Symbol der Zeit, die wir als gnadenlos und alles durchdringend kennen. Chronos bestimmt unseren Lebens-Rhythmus durch Uhren und Kalender immer präziser, so wie ein Metronom.

 

Kairos

Beschäftigen wir uns ein wenig mit dem anderen Vertreter der Zeit: Kairos. Von dem, was er vertritt, weiß heute kaum noch Jemand etwas.

Kairos (griechisch Καιρός) steht für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung, dessen ungenütztes Verstreichen nachteilig sein kann. Im Gegensatz zu Chronos, der Zeitabschnitte schafft, wird mit Kairos der rechte Zeitpunkt erfasst.

Selbst in biblischen Texten kommt Kairos vor. Hier wird er dargestellt, als einen von Gott gegebenen Zeitpunkt, eine besondere Chance und Gelegenheit, einen Auftrag zu erfüllen. Kairos steht hier auch für die Entscheidung zwischen Glaube und Unglaube.

 

Kairos vertritt eine andere Zeit oder Metapher des Lebens: Mit ihm können wir „Die Gelegenheit, oder auch das Glück am Schopfe packen“.

Der altgriechische Bildhauer Lysippos erschuf für den Eingang zum Tempel in Olympia eine Statue, die den Gott Kairos zeigt. Er stellte ihn als einen jungen Mann dar, mit geflügelten Schuhen, dessen Hinterkopf kahl ist, dem aber eine Haarlocke ins Gesicht fällt.

Und so wird dieser altgriechische Gott des richtigen Augenblicks, oder der günstigen Gelegenheit auch in der griechischen Mythologie beschrieben: Als ein Gott mit einer eine Glatze, dem ein Haarschopf ins Gesicht fällt. An seinem Rücken befinden sich Flügel und er hat zusätzliche Flügel an seinen Füßen. Kairos ist dadurch schneller als alle anderen Götter des Olymp. Er kommt plötzlich und unerwartet, wie der Wind, wie die vielen verpassten, aber auch die gelungenen und erfühlten Gelegenheiten des Lebens.

 

Poseidippos von Pella (3. Jahrhundert v.Chr.) hat in seinen Epigrammen aus Olympia einen Dialog eines Betrachters mit Kairos verfasst:

Wer bist du?
Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
Warum läufst du auf Zehenspitzen?
Ich, der Kairos, laufe unablässig.
Warum hast du Flügel am Fuß?
Ich fliege wie der Wind.
Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer?
Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer.
Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?
Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.
Warum bist du am Hinterkopf kahl?
Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbei geglitten bin,
wird mich auch keiner von hinten erwischen
so sehr er sich auch bemüht.
Und wozu schuf Euch der Künstler?
Euch Wanderern zur Belehrung.“

 

Kairos zeigt uns den Weg zum Glücklichsein: Die richtige Gelegenheit am Schopfe packen! Leider haben wir uns jedoch Chronos unterstellt und so verpassen wir Tag für Tag so viele Gelegenheiten. Wir greifen vergeblich nach dem Schopf und bekommen nur die Glatze zu spüren. Die verpassten Gelegenheiten nehmen wir meist erst später wahr, wenn sie vorbei sind.

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Wir leben viel zu wenig in der Gegenwart, denn dafür steht Kairos an erster Stelle: Hier und jetzt und nicht früher oder später. Kairos schreibt nicht vor, um was für eine Gelegenheit es sich handelt, oder wofür. Wir sind es die sie erkennen müssen. Er bleibt bei keiner einzelnen Gelegenheit stehen, denn er weiß ja nicht, auf welche Gelegenheit wir warten. So fliegt er unermüdlich durch alle Zeiten. Kairos hinterlässt nur wenig Spuren in seinem Flug. Seine Wege und sein Flug sind deshalb schwer zu fassen.

 

Wie können wir lernen, die Gelegenheiten, die Kairos uns in Fülle bietet, zu erkennen? Dazu sollten wir uns einmal anschauen, in welcher Zeit wir leben. Kairos steht ja für den Augenblick – den richtigen Augenblick und den gibt es nicht in der Vergangenheit und auch nicht in der Zukunft. Ihn gibt es nur in dem Moment, wo er sich uns bietet. Wenn wir die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf die Herrscher Chronos und Kairos einteilen, dann sieht das so aus:

 

Vergangenheit = Chronos     Gegenwart = Kairos     Zukunft = Chronos

Die Gegenwart ist ja stets nur ein winziger Teil des Seins – sie wird sofort zur Vergangenheit. Mit Kairos zu leben, ist für Menschen, die sich den herrschenden Systemen unterstellt haben, überhaupt nicht möglich. Denn kein Berufstätiger kann, weil er eben eine Eingebung hatte, sich von einer Sekunde auf die andere von seinem Arbeitsplatz entfernen, um seiner gekommenen Idee nachzugehen. Doch können wir lernen, mehr auf unsere „Eingebungen“ zu achten, denn es gibt viele „richtige Gelegenheiten“, die wir am Schopfe packen können – Kairos bietet sie uns immer wieder.

Worauf sind jedoch die Gedanken der meisten Menschen gerichtet? Auf ihrer Vergangenheit, die sie noch nicht verarbeitet haben und auf dem, was sie in der Zukunft alles machen wollen: Am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub, beim Besuch von Freunden, beim Ausflug in die Berge usw.

Natürlich ist unsere Vergangenheit für uns wichtig. Wenn wir sie als unseren Erfahrungsschatz ansehen – Erfahrungen, von denen wir profitiert haben und auf denen wir unser Jetzt aufbauen. Gemachte Erfahrungen aufzuarbeiten ist enorm wichtig, denn eine aufgearbeitete Erfahrung fesselt unsere Gedanken nicht mehr. Sie wird in unserem Erfahrungsschatz etwas Selbstverständliches, über das wir nicht mehr nachdenken müssen. Jedes Hätte ich doch…, Heute würde ich, wenn… usw. fesselt uns an Chronos, der uns verschlingt. Das Gleiche gilt für die Zukunft. Das soll jetzt nicht heißen, dass wir überhaupt nichts planen sollten, denn es würde unsere Phantasie einengen. Uns vorzustellen, was wir alles machen können, wie wir gestalten usw. ist ein Teil unseres kreativen Wesens. Doch wir sollten nicht, vor lauter Vorstellungen, was in der Zukunft alles passieren kann, vergessen, die Gegenwart zu leben und unsere Phantasien auch umzusetzen. Worauf es ankommt, ist die Gewichtungen zu verschieben. Die meisten Menschen leben fast gar nicht mehr in der Gegenwart und so verpassen sie alle Möglichkeiten ihr Glück beim Schopfe zu fassen.

Balkonfoto von Frau Lackinger

Kairos steht für die Qualität der Zeit! Für den richtigen Zeitpunkt zu säen und zu ernten, zu feiern, ein Kunstwerk zu schaffen, ein Gedicht zu schreiben, oder einfach nur im Garten auf der Wiese zu liegen und die Sonne zu genießen. Die gesamte Astrologie zum Beispiel, ist auf der Zeitqualität, also auf  Kairos aufgebaut.

Wer es schafft, Kairos immer mehr Raum zu geben, dessen Lebensqualität steigt enorm.

 

Christa Jasinski

 

 

 

 

20. Mai 2013 von Christa Jasinski
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