Dolmenpilgern in Russland

Eine Reiseerzählung in fünf Teilen

von Thea Baum

 

Auf dem Land. So richtig auf dem Land! Zwei einhalb Autostunden von Krasnodar entfernt, an einem Fluss, umrahmt von Wäldern und Bergen, liegt Pschada, ein Dorf mit immerhin 3000 Einwohnern. Wo die 3000 alle stecken, kann ich mir nicht erklären. Eher hege ich die Vermutung, dass Yuri falsch übersetzt hat und es eigentlich nur 300 sind.

Ich bin der Einladung Yuris gefolgt und zum „Dolmenpilgern“ in den Süden Russlands geflogen. Ganze 10 schöne Maitage werde ich mit zwei Neuseeländern und dem Russen Yuri als unserem Reiseleiter im Pschada-Tal verbringen. Die Dolmen möchten wir sehen, wandern gehen und auch einmal die Schule von Tekos besuchen.

 KarteGroßansicht Landkarte

Links: Von Deutschland nach St.Petersburg habe ich den Landweg gewählt, dann ging es im Flugzeug nach Krasnodar, wo mich Yuri mit dem Auto abgeholt hat.

Rechts: Die Detailansicht zeigt oben rechts: Bezirkshauptstadt Krasnodar; unten links: Gelendschick, Kurort am Schwarzen Meer. Von dort der E97 gen Süden folgend, nähert man sich dem Vorgebirge des Kaukasus. Am Fluss Pschada liegt das gleichnamige Dorf, in dessen Umgebung es zahlreiche Dolmen gibt.

 Dolmentourismus

 Pschada erweist sich als der perfekte Ausgangspunkt für Dolmenferien: das Schwarze Meer ist ganz nah, die Berge laden zum Wandern ein und zahlreiche Dolmen liegen quasi direkt vor der Haustüre. Das erklärt auch, weshalb wir nicht die einzigen sind, die den Weg hierher gefunden haben – wohl aber sind wir die einzigen Ausländer. Viele junge Russen, vor allem Frauen, haben weite Strecken zurückgelegt, um die Megalithen zu besuchen. Manche kommen von weiter her als ich! Die meisten von ihnen quartieren sich in den örtlichen Pensionen ein – so auch wir. Aber nicht selten passiert es uns, dass wir auf unseren Wanderungen kurz vor der erwarteten Dolmengruppe auf ein Zeltlager stoßen, wo sich Familien und junge Leute eingerichtet haben.

 Meditation Die Russin Katja meditiert auf einem Dolmen.

 Rätselhafte Steingebilde

 Was Dolmen sind, muss ich ja nicht weiter erklären. In den „Grünen Büchern“, wie man die Anastasia-Reihe in Russland unter Kennern nennt, spielen sie eine zentrale Rolle. Yuri sagt, die Megalithen in dieser Gegend seien so zwischen 5000 und 10.000 Jahre alt. Älter als Stonehenge. Im Museum von Gelendschick finden wir Ergebnisse der Forschung präsentiert: Bei Ausgrabungen haben Wissenschaftler mehrere Skelette in den Dolmen gefunden, weshalb sie darauf schließen, dass diese als Massengräber genutzt wurden. Klingt zunächst schlüssig, hat aber einen Haken, welcher im Museum nicht erwähnt wird: Skelette und Megalithen stammen aus unterschiedlichen Zeiten. Die Aussage, Dolmen seien als Massengräber genutzt worden, ist nicht falsch. Man muss aber dazu sagen, dass es nicht ihr ursprünglicher Zweck war. Erst viel später wurden die Megalithkonstruktionen zweckentfremdet, als Grabstätten und manchmal auch als Wohnungen genutzt.

Zum ersten Mal habe ich im Museum von Gelendschick von dem Brauch gehört, die Löcher in den Dolmen mit einem riesigen
Stöpsel aus Stein zu versiegeln. Vorort haben wir nie solche Korken gesehen, aber im Museum waren mehrere ausgestellt. Ihr Kopf ist entweder mit Ringen oder mit Kreuzen verziert.

Ganz eigentlich, das wissen wir aus den „Grünen Büchern“, wurden sie für je eine weise Person errichtet. Nicht für irgendjemanden, sondern nur für einen Menschen, der große Weisheit besaß. Dieser würde den Zeitpunkt selbst bestimmen, zu dem er sich ins Innere des Megalithgehäuses begäbe. Dann würde er die anderen Mitglieder seines Stammes auffordern, die Frontplatte für immer zu schließen, um meditierend in die Ewigkeit einzugehen. Es wird gesagt, dass die Seele eines solchen Weisen für immer an diesen Ort gebunden sei, sie könne nicht in einem neuen Körper wiedergeboren werden, sondern bliebe immateriell. Es ist ein Geschenk, welches uns diese weisen Vorfahren gemacht haben: ihre Seelen sind an das Erdenleben, an die Orte ihrer letzten Atemzüge gefesselt, ohne weitere physische Erfahrungen machen zu können. Den nachfolgenden Generationen stehen sie mit ihrer Weisheit zur Seite. Helfer aus der Vorzeit also, unsichtbar aber doch da. Man muss sie nur besuchen und ein offenes Ohr für sie haben. Nun stelle man sich mal eine Museumstafel mit so einer Erklärung vor!

Dolmen befragen

Es ist das erste gemeinsame Abendessen für unsere kleine Reisegruppe. Wirtin Lydia hat Grünen Borschtsch für uns gekocht und allerlei Kräuter aus dem Garten herbei gebracht. Auf dem Markt im Dorf haben wir auch die ersten Tomaten der Saison, Obst und ganz frischen Käse erstanden. Es war eine Freude, dort einkaufen zu gehen und die Leute aus dem Dorf kennenzulernen. Yuri ist bekannt wie ein bunter Hund und alle wollten einen Schwatz mit ihm halten und auch uns kennenlernen. Die Marktfrauen schienen stolz zu sein, ihre Ernte an uns zu verkaufen.

Während Donald, Cate und ich nun, verzückt über so viel gute Nahrung, futtern was das Zeug hält, kommt der arme Yuri gar nicht zum Essen. Denn immer wenn einer von uns dreien mal den Mund frei hat, schwappt eine Welle von Fragen auf den Russen zu. Wie alt sind die Dolmen? Hast du schon mal mit einer Dolmenseele gesprochen? Gehen die Einheimischen zu den Dolmen? Haben die Leute Megrés Bücher gelesen? Ist man hier besonders spirituell? Sind die Dolmenseelen wirklich noch da? Warum steht in den Geschichtsbüchern nichts darüber? Magst du Putin? Und überhaupt, was hälst du von der Krim-Sache? Auf all das und noch viel mehr muss der arme Kerl Antwort geben, denn wir sind zum ersten Mal in Russland und haben einen unstillbaren Wissensdurst. Die wichtigste Frage, die mir auf der Seele brennt, ist praktischer Art und ich plauze sie zwischen zwei Löffeln Suppe heraus: „Yuri, was machen wir denn, wenn wir bei einem Dolmen sind? Ich meine, wir werden ja wohl nicht an der Türe klopfen und darauf warten, dass der Dolmengeist herauskommt, um einen erleuchtenden Plausch mit uns zu führen?!“

Ist das da der Anflug eines verschmitzten Lächelns auf Yuris Gesicht? Na, das kann ja interessant werden! Er nimmt sich erstmal einen Moment Zeit, schiebt den noch vollen Teller Suppe von sich weg, um Platz für seine Hände zu haben – denn er spricht sehr gern mit den Händen – und immer noch mit dem verschmitzten Zug um die Mundwinkel, beginnt er zu erzählen: „Man muss sich vorstellen, dass die Dolmenseele seit Jahrtausenden dort in dem Dolmen wohnt. Sie wartet geradezu auf unseren Besuch. Darauf, dass wir uns ein kleines Bisschen Weisheit von ihr abholen. Natürlich solltest du ihr mit Respekt begegnen. Aber vergiss nicht, dass sie eine menschliche Seele ist. Eine Begrüßung und Verabschiedung sind angemessen. Manche bringen auch Blumen und Geschenke mit. Am Ende solltest du nicht vergessen, dich für das Gespräch zu bedanken!“

Oha, Blumen und Geschenke für die Dolmengeister also. Ich bin ja eher nüchtern und pragmatisch. Bei mir kriegen nur die Lebenden was und dann auch bloß Nützliches.

Aber Yuri fährt fort: „Wenn du zu einem Dolmen kommst, dann such dir einen schönen Platz in der Nähe. Manche haben eine kleine Sitzgelegenheit davor, andere besitzen eine Art in Stein gehauene Schwelle, auf der es sich ganz gut sitzen lässt. Mach es dir gemütlich. Und dann beruhige deinen Geist! Stell deine eigenen Gedanken ab und öffne dich für Neues. Du kannst der Dolmenseele konkrete Fragen stellen oder aber einfach warten und beobachten, was so kommt.“

Ich spüre die Vorfreude auf den nächsten Tag in mir aufsteigen. Es kribbelt und pulsiert in mir, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen und kann meinen Enthusiasmus kaum bändigen. Nur sitzt da auch ein kleiner Zweifel in meinem Hinterkopf: „Und was, wenn die Dolmenseele nicht antwortet? Oder ich sie nicht höre und auch nichts ‚einfach so kommt‘?“

„Das ist die Crux! Spirituelle Erfahrungen lassen sich weder herbei wünschen, noch erzwingen! Man kann nur offen sein, ihnen Raum geben und sie erlauben. Ich jedenfalls nehme auch immer ein Buch zum Schreiben mit. In Gegenwart der Dolmen und in der Natur lässt es sich wunderbar denken.“

Das war also der Schlusssatz des Tages und Yuri darf nun seine kalte Suppe löffeln. Ich werde indes mein Tagebuch und einige Buntstifte einpacken, um morgen in aller Frühe in den Wald zu spazieren.

Stille

Der nächste Morgen ist auch schnell zur Stelle und die Wanderschuhe flink geschnürt. Unweit unserer Unterkunft fließt die Pschada, welche wir erst einmal überqueren müssen.

Am Schwarzen Meer

Unser Ziel liegt auf einem Berg im Wald, auf der anderen Seite des Flusses. Mit Vergnügen streifen wir die Schuhe ab und waten durch das klare, kühle Wasser. Dann kommen Matsch und Dickicht, und schließlich schöner, lauschiger Wald. Unsere Wissbegierde ist selbst zu so früher Stunde schon geweckt und abermals fragen, plappern und plaudern wir. Unser munteres Reden hält auch dann nicht inne, als der Weg steil und steinig wird und sich immer enger durch den Wald nach oben schlängelt.

Doch plötzlich – ganz ohne Grund – werden wir still. Gerade eben haben wir noch mitten in einem Thema gesteckt, es noch nicht einmal ganz erschöpft, es gäbe noch so viel dazu zu sagen, ich glaube Donald hing auch noch mitten in einem Satz – doch just im nächsten Moment sind wir alle gleichermaßen von Stille erfüllt. Und irgendwie wissen wir: Gleich sind wir da. Der Wald wird immer schöner. Knorrige Bäume säumen den Pfad und bekrönen ihn mit einem grün leuchtenden Blätterdach. Es riecht kräftig nach Walderde. Noch eine Wegbiegung, dann lichtet sich der Wald und vor uns auf der Bergkuppe erhebt sich ein mächtiger Dolmen. Erhaben sieht er aus. Ganz und gar erhaben. So schlicht in seiner Bauweise, und doch mächtig beeindruckend. Seine großen, schweren Platten sitzen nahtlos aufeinander, als seien sie über die Jahrtausende zusammengewachsen. Vier Seitenwände, eine Dachplatte und eine Bodenplatte gibt es. Der Frontstein mit dem runden Loch hat eine A-Form, sodass sich die Seitenplatten etwas schräg daran anschmiegen. Die Dachplatte ist viel größer als der Rest, ragt vorn über und bildet so zusammen mit den ebenso heraus stehenden Seitenwänden einen geschützten Eingangsbereich. Dort möchte ich verweilen. Aber erst einmal erkunde ich die Umgebung. Auch meinen Begleitern hat es die Sprache verschlagen und für die nächste Zeit ist jeder mit sich selbst beschäftigt.

auf dem Dolmenberg Auf dem Dolmenberg. Mit der Zeit hat es sich durchgesetzt, den Dolmen Namen zu geben, die auf die Erfahrungen hinweisen, welche die Besucher bei ihnen gemacht haben. Dieser hier gehört zu der Gruppe der „Heilenden Dolmen“.

Ganz langsam und leise bewege ich mich durch den Wald. Neben dem ersten großen Dolmen steht noch ein zweiter, nur wenig kleiner und nicht mehr ganz so gut erhalten. Etwas weiter hinten finde ich auch noch die Ruinen von mindestens drei anderen. Kleine Pfade führen zu jedem von ihnen. Vögel singen laut. Es ist schön hier. Ab und an fliegt etwas Müll herum.

Schließlich setze ich mich in die Ecke, die ich mir schon vorher erspäht habe und schließe die Augen. Der Stein ist kühl und auch ein bisschen feucht, aber das soll mir nichts ausmachen. Ich fühle so eine tiefe Ruhe in mir wie schon lange nicht mehr. Wo ist nur meine Hibbeligkeit, meine Euphorie, die mich Hüpfen und Rennen lässt? Selbst die Stimme in meinem Kopf hat aufgehört wild zu quasseln, von einem Gedanken zum nächsten zu springen ohne letzteren überhaupt zu Ende geführt zu haben. Jetzt herrscht Ebbe. Windstille. Leere.

Leere? Wirklich? Genau genommen fühle ich mich erfüllt. Beseelt von Gleichmut und Frieden. Es fühlt sich warm an und gut. Was für ein wohliger Zustand, möge er anhalten!

Als ich nach einiger Zeit blinzele, bemerke ich wie Cate sich in langsamen Bewegungen zum Boden bückt und etwas aufhebt. Donald hält ihr einen großen Plastiksack entgegen. Still und leise räumen die beiden den Wald auf. Und auch ich spüre das Bedürfnis, diesen Ort schön zu hinterlassen. Mehr als jemals zuvor – ja sogar stärker als bei mir zu Hause – fühle ich mich verantwortlich für diesen Platz. Und ich weiß auch warum: ich bin dankbar für den guten Moment, den ich hier erlebt habe.

So machen wir uns auf den Rückweg, immer noch schweigend, mit einem vollen Müllsack. Im Gehen danke ich den Dolmenseelen dieses Berges. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich weder Hallo noch Tschüss gesagt habe, keine Frage gestellt und auch sonst kein Gespräch mit ihnen gesucht habe.

Thea Baum

Meditieren im Bmbakov-Park

Dolmenschreiben

Sprechen mit der Dolmenseele

Dolmen

Wer mehr Bilder anschauen möchte, folge diesem Link:

Mt. Tsygankov

Genauere Informationen zu den Touren, die Yuri anbietet, entnehme man seiner Website:

http://spaceoflove.com/dolm_tour.htm

In der Zwischenzeit schreibe ich fleißig weiter, so dass ihr ganz bald vom Patriarch-Dolmen, der Schule in Tekos und dem Ökodorf Vedrussia zu lesen bekommt.

Bilder von Yura Smirnov und Thea Baum.

 Fortsetzung folgt.

 

13. August 2014 von Christa Jasinski
Kategorien: Allgemein | 3 Kommentare

Kommentare (3)

  1. danke daß Du mich dorthin mitgenommen hast!

  2. Ich möchte auch gerne Dolmen in Russland besuchen.
    Gibt es da irgend welche deutschsprachige anlaufstellen für Dolmenführungen
    oder beratungsstellen vor Ort die einen gut deutschsprachig informieren?

    Schon mal vielen Dank im voraus!

    Liebe Lichtgrüße!
    Hans H.

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