Dolmenpilgern in Russland
Im Mai war Thea Baum im Vorgebirge des Kaukasus unterwegs, um Dolmen zu erkunden. Mit auf Tour waren der Reiseleiter Yuri und die zwei Neuseeländer Cate & Donald. Die Leser des Garten Weden dürfen in den fünf persönlichen Erzählungen an der Reise Teil haben.
Teil 2 – Der Patriarch
Ein alter Jeep auf fetten Rädern und ohne Dach – so einer, wie man sie auf Bildern von Safari-Touren in Afrika sieht – so einer also, nur russisch und bestimmt älter als ich, brettert mit uns durch das Flusstal und bringt uns verborgenen Schönheiten näher. Heute Morgen waren wir an Wasserfällen, sind durch Felsschluchten gefahren und haben am Flussufer gevespert. Ich komme mir wirklich vor wie ein Safari-Tourist. Anstelle von Tieren gibt es Bäume, Luft und Wasser zu erleben. Ich möchte sie umarmen, sie in mich aufsaugen, darin baden – es ist alles so rein und intensiv hier. Oder empfinde ich es nur so? Sind es nicht eigentlich Bäume wie Zuhause auch? Luft, genau wie überall? Wasser, wie es auch durch den thüringischen Dorfbach plätschert? Nein, das ist nicht dasselbe. Hier im Süden Russlands sind die Dimensionen anders. Der Wald ist wilder, die Berge höher, der Himmel weiter, es gibt mehr Luft, mehr Platz, mehr Schlichtheit, mehr Echtheit. Mehr. Alles ist „mehr“ und intensiver. Zumindest fühlt es sich so an. Und durch dieses „Mehr an Intensität“ bewegen wir uns. Oft zu Fuß, aber oft auch mit dem Auto, so wie jetzt.
Unser Fahrer heißt Mischa. Braungebrannt und muskulös, aus dem Hemd illern Brusthaar und Goldkreuz hervor. Er ist noch keine 50, aber schon Rentner. Bis vor Kurzem hat er als Polizist gearbeitet, doch mit Mitte 40 werden die Polizisten in Russland pensioniert. Also hat er sich einen alten Geländewagen gekauft und chauffiert nun die Touristen. Ab und an fährt Mischa uns auch in seinem normalen Auto zu Sehenswürdigkeiten. Mir wird dann meistens ganz anders, wenn er den Komfort einer ordentlichen Asphaltstraße genießt und aus seinem Wagen herausholt, was an Geschwindigkeit so herauszuholen ist – ungeachtet der Kurven oder etwaiger Hindernisse. Da kann auch die Maria, die in der Frontscheibe baumelt, nicht viel helfen. Selbst Autofahren nehme ich hier intensiver wahr.
Nun tuckern wir aber durch ein ausgetrocknetes Flussbett auf den Waldrand zu. Wir werden kräftig durchgeschüttelt, was mir allemal lieber ist, als in Super Mario-Manier über Serpentinenstraßen zu düsen. Am Ende einer Apfelbaumplantage und am Anfang des Waldes, hält Mischa an, springt aus dem Wagen und deutet uns, ihm zu folgen. Zielstrebig schlendert er in den Wald hinein. Kein Schild, keine Wegmarkierung, nichts. Man muss sich auskennen. Wir schlittern einen erdigen Abhang hinunter, überqueren mehrere glucksende Wasserläufe und stoßen schließlich auf …
nicht auf den Dolmen, wie erwartet. Erst einmal kommt der Souvenirverkäufer. Ein großer, haariger Mann, der mich an einen Bären erinnert, preist uns seine Ware an. Kleine Dolmen aus Gips, bemalt oder in Weiß. Auch noch Postkarten und Schlüsselanhänger. Es ist doch kurios. Wir sind mitten im Wald, keine Straße führt hierher und keine Wanderkarte weiß den Weg. Aber einen Souvenirverkäufer gibt es.
Einigermaßen glimpflich komme ich aus der blöden Werbeaktion heraus – mit einem schiefen Lächeln, das sagen soll „Ist ja nett, aber nein danke.“ und das hoffentlich „Oh nein, bloß nicht so einen Kitsch!“ verschweigt.
Nun aber endlich zum Dolmen! Unser Reiseleiter Yuri hat schon am ersten Tag von ihm geschwärmt. „Der Patriarch“ wird er genannt und man sagt ihm eine besondere Stärke nach. Auch Mischa scheint eine Vorliebe für diesen Gefährten zu haben. Er lässt es sich nicht nehmen, ihn uns persönlich zu zeigen. Noch einmal über ein Bächlein gesprungen und ein paar Schritte ins Innere des Waldes – da thront er majestätisch. Von einer kleinen Anhöhe aus überblickt der Patriarch den Wald zu seinen Füßen. Unser Herannahen kann ihm gar nicht unbemerkt bleiben und seine Größe strahlt bis hier unten hin.
Vom mächtigen Dach ist ein Teil abgebrochen und liegt nun vor dem Eingang. Das erweckt als erstes Mischas Aufmerksamkeit. Er hält seine Hände einige Zentimeter über die Bruchstelle des Steins, lässt sie dort schweben. Wir sollen es ihm nachmachen und spüren, wie elektrische Reize gleich Nadelstichen in die Handflächen pieksen. Diese Steinblöcke, meint Mischa, sind Energie geladen.
Nur zu gerne würde ich etwas spüren. Ich lasse meine Hände eine ganze Weile über dem Stein schweben. Vielleicht ein Stechen? Prickeln? Wenigstens Jucken? Doch alles, was ich spüren kann, sind meine Handflächen, die Luft drum herum und die ganz normalen Gefühle innen drin. Was man halt so spürt, wenn man sich auf ein Körperteil konzentriert. Nichts von außen, keine Energieschübe oder Elektrofunken.
Macht nichts, Mischa hat schon eine neue Aufgabe für uns. Von hinten ist er auf das Dach des Dolmens geklettert und steht nun barfuß mit geschlossenen Augen, die Handflächen nach oben geöffnet. Geschwind tun wir es ihm nach und stehen dann zu viert auf der mächtigen Felsplatte. Kalt ist der Stein. Das Glucksen des Bächleins ist zu hören. Vögel. Aber kein ungewöhnliches Stechen in den Fußsohlen oder sowas. Auch keine Eingebung. Keine Unterhaltung. Mir wird eher etwas schwindelig – Meditieren im Stehen ist echt nicht so meins. Der Satiriker in mir seufzt im Stillen: „Bist halt kein Indigo-Kind.“
Wie waren gleich nochmal Yuris Worte vom ersten Abend? Spirituelle Erfahrungen lassen sich nicht erzwingen und auch nicht herbeiwünschen? Nun gut, kein Grund zur Enttäuschung. Ich schlüpf also in meine Schuhe und schlendre durch den Wald.
Von irgendwoher summt es. Es brummt so laut, als würden… – Ja tatsächlich! Ich kraxle einen Hang hinauf und erspähe zu meiner Rechten bunt angemalte Bienenstöcke. Wie schön, dass hier jemand Bienen hält! Der Honig von so einem Ort ist bestimmt besonders gut. Weiter hinauf klettre ich den steilen Pfad, bis ich auf eine Bergkuppe gelange. Meine Herren, ist die Aussicht schön! Ich kann es gar nicht fassen. Zu allen Seiten sieht man große, grüne Berge. Wald, so viel Wald! Der perfekte Ort fürs nächste Picknick ist schon mal gefunden. Wo bleibt das Essen?
Thea Baum